Kitschige Mutterbilder sind beliebt. Am besten funktionieren sie in der Kriegsberichterstattung. Denn schnell wird Mitleid geweckt mit Müttern, an deren Brust ein Baby hängt oder deren Beine von dünnen Kinderarmen umschlungen werden. Und soll vor Flüchtlingsfamilien gewarnt werde, tun das am besten kleine bettelnde Mädchen und ungewaschene Buben mit Mütter im Hintergrund. Dagegen ist Bertolt Brechts "Courage" eine widersprüchliche Mutter. Er erfand sie 1939 im skandinavischen Exil. im Zürich Emigrantentheater hatte das Drama Premiere im Kriegsjahr 1941. Seine Mutter ist Marketenderin und zieht mit ihren drei Kindern von drei verschiedenen Männern über die Schlachtfelder des Dreißigjährigen Krieges. Dass ihre Kinder dabei umkommen, verändert ihr Leben nicht. Sie ist und bleibt Geschäftsfrau und lässt sich den Krieg, von dem sie lebt, nicht madig machen und singt:
Das Frühjahr kommt! Wach auf, du Christ!
Der Schnee schmilzt weg! Die Toten ruhn!
Und was noch nicht gestorben ist
Das macht sich auf die Socken nun.
Courage besaß auch Helmuts Mutter, sie konnte alte Lebenslagen verlassen und neue Chancen schnell erkennen und sich mit einem Blick entscheiden. Nicht viel reden, was tun, lernte sie in der Werkstatt ihres Vaters. Er war der Glasermeister Sternthal in Knittelfeld, wo sie am 7.6.1900 zur Welt kam und aufwuchs, was die Persönlichkeits-Entwicklung des kleinen Mädchen stark prägte, denn direkt vor der kleinen Stadt (8.852 Ew.) entstand im Ersten Weltkrieg eine zweite viel größere Stadt, eine reine Männerstadt: ein Militärspital für k.u.k. Soldaten, die von Italienern verwundet wurden. Und ein Kriegsgefangenenlager für 30.000 kaiserliche Russen. Es war das größte in der Monarchie.
Helmut Spielmann:
"Shanghai -
eine Jugend im Exil"
Herausgegeben von
Gerald Lamprecht und
Ingeborg Radimsky.
Clio Verlag Graz 2015
Preis: Euro 18.00
Welche Psychodramen diese Massierung von Gewalt auch in Gang setzte, ein Heiratantrag bot Paula zum ersten Mal die Chance aus der Stadt zu flüchten. Der Mann war Grazer, um 11 Jahre älter, ein reicher Kaufmann und Jude. Paula nahm sofort an, konvertierte, bekam den Namen Esther und lernte koscher kochen.
Es war die erste und wichtigste Entscheidung in Ihrem Leben. Mit der zweiten erfüllte sie sich den Wunsch einer eigenen Familie. 1930 kam Helmut zur Welt. 1939 ging sie mit ihrem Sohn und Mann in die Emigration nach Shanghai. Bedenkenlos. Aber 1 Jahr später trennte sie sich in der Fremde von ihrem Ehemann. Ließ ihren Sohn von antisemitischen Jesuiten taufen und firmen und kehrte zurück in die katholische Kirche.
Alles Entscheidungen aus dem Gefühl heraus und ohne Angst.
Angst bekam Paula immer erst danach bei der Bewältigung der neuen Aufgaben. Diese Angst war dann so stark, dass sie Weinkrämpfe auslöste, fiebrige Erkrankungen. Sie verletzte sich bei einfachen Handarbeiten und verlor immer wieder die Orientierung. Sie konnte nicht arbeiten, verarmte und konnte sich keine Lebensmittel leisten. In diesen Notlagen halfen ihr immer wieder Männer. In Graz und auf der Seereise nach Shanghai war es der Ehemann. In Shanghai war Ihr Sohn der Retter. Denn dem elfjährigen Waisen fielen immer wieder kleine Geschäfte mit den Chinesen ein, zum Ärger der Schulleitung. Der antisemitische Brother Director sagte zu dem Schüler: "'Offensichtlich kannst du deine Abstammung doch nicht überwinden, denn überall dort, wo Geschäfte gemacht werden, bist du dabei.' Da nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und erwiderte:
'Brother Director. ich glaube nicht, dass es noch einen Schüler hier gibt, der von zu Hause mit so wenig Geld in die Schule geschickt wird. Mit dem, was ich hier verdiene, erhalte ich auch meine Mutter, die krank ist und nicht immer zu anderen Leuten gehen soll und kann, um dort die Drecksarbeit zu verrichten.' Dann nannte er mich zum ersten und einzigen Mal beim Vornamen. 'OK, Helmut, explain your situation, but no lies.' Er sagte nichts und schickte mich weg. Einige Tage später erschien Brother John und brachte meiner Mutter etwas Geld und dann erhielten wir jede Woche Lebensmittel, Zucker, Mehl, Gemüse aus dem Schulgarten und ähnliches. Es war jedenfalls eine Hilfe."
Mit dieser Retterrolle verlor Helmut zunehmend seine persönliche Freiheit, die er im Krieg gegenüber seiner Mutter gewonnen hatte. Dabei regredierte er zu dem nicht volljährigen Sohn, der er ja war und über den sie verfügen konnte, was ihn in einen Widerspruch zu seinem Ziel brachte, in den USA Karriere zu machen. Es entstand zwischen Mutter und Sohn eine Beziehungskonstellation mit "narzisstischen" Loyalitäten. Helmut Spielmann:
"Wir hielten uns gegenseitig in den Armen, was wir seit dem Tod Papas nicht mehr getan hatten."
Antisemitismusforschung
www.feuchtwanger.de
www.ich-war-jud-suess.de
Fortsetzung im Februar in der Folge 8/12 auf www.DerInternetlink.de
www.ifam-berlin.de
"Raus mit den Deutschen!"
Repatriierung vom Juni/Juli 1946
Es musste ja so kommen. "Raus mit den Deutschen!" Treibende Kraft waren wohl, wie nach dem Ersten Weltkrieg, die Briten. Die Durchführung überließen diese diesmal den Amerikanern. Die Chinesen schauten nur zu. Sie hatten viele Freunde unter den Chinadeutschen und schätzten deren Verhalten ihnen gegenüber und deren Tüchtigkeit.
Es war bei dieser Repatriierung vom Juni/Juli 1946 nicht schwierig, freigestellt zu werden, besonders nicht, wenn es sich um technisch ausgebildete Personen handelte. Diese wurden von den öffentlichen Einrichtungen (Elektrizitäts- und Wasserwerken, Telefonämtern etc.) als "unentbehrlich" gemeldet und konnten, oder sollten sogar, bleiben. Ein einflussreicher chinesischer Bekannter deklarierte mich als seinen landwirtschaftlichen Berater, und das genügte. Eine ganze Reihe Chinadeutseher wollte übrigens gerne nach Deutschland zurückkehren und fand es nicht schlecht, umsonst heimreisen zu können. Auch gänzlich Unbelastete, so beispielsweise die Diakonissinnen des Deutschen Hospitals und sämtliche Niederländisch-Indien-Flüchtlingsfrauen ließen sich auf die Repatriierungsliste setzen. Den Amerikanern war es recht, dass sich auf' diese Weise die Zahl der Abzuschiebenden nicht verringerte.
Für die Repatriierung stellte die US-Navy einen Truppentransporter, die "Marine Robin", zur Verfügung. Teilnehmer dieser Repatriierung erzählten mir später, dass Unterbringung und Verpflegung auf der "Marine Robin" den Umständen entsprechend ganz passabel waren. Der Kapitän, die Besatzung, besonders die Ärzte, wurden gelobt. Schlimm wäre es den Heimkehrern nach Ankunft in Bremerhaven ergangen. Trausport in Viehwaggons, Einsperrung auf der Feste Asperg bei Ludwigsburg, die Frauen und Kinder in einem Lager in Ludwigsburg, Verhöre, Entnazifizierung. Entlassung vielfach erst nach Wochen oder Monaten. Der Leiter der Deutschen Schule Peking, Herr Dr. Weiss, war beispielsweise versehentlich als Verbrecher eingestuft worden und musste zwei Jahre lang in verschiedenen Lagern verbringen. "Der eine hatte Glück, der andere hatte Pech!" sagte er mir.
Quelle:
Erinnerungen des deutschen Chinakaufmannes Paul Wilm.
In: Deutschland und China 1937-1949 : Politik, Militär, Wirtschaft, Kultur;
eine Quellensammlung / hrsg. von Mechthild Leutner.
Bearb. von Wolfram Adolphi und Peter Merker. Berlin 1998, S. 468
Studienmöglichkeiten für Flüchtlinge an der TU Berlin
Freitag, 11.12.2015
Sehr geehrter Herr van Veen,
ich wurde von der Redaktion DERINTERNETLINK gebeten, in der Januar-Ausgabe über die Studienmöglichkeiten für Flüchtlinge an der TUB zu berichten. Für Infos wäre ich Ihnen dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Friedrich Knilli
Montag, 14.12.2015
Sehr geehrter Herr Knilli,
vielen Dank für Ihre Anfrage und den Link auf "DERINTERNETLINK". Ich habe den Artikel über Helmut Spielmann mit Interesse gelesen.
Die Studiermöglichkeiten für Flüchtlinge werden unter der Überschrift In(2)TU Berlin angeboten. Diese bestehen aus:
einer "Schnupper-Universität", siehe unter https://www.tu-berlin.de/?164055,
einer Flüchtlingsklasse am Studienkolleg in Kooperation mit der ZEMS - Spracherwerb, zugeschnitten auf MINT-Fächer mit ggf. Feststellungsprüfung. Im Moment haben wir 26 Plätze, wir planen einen Ausbau auf 200 Plätze.
Unten stehend finden Sie Links zu unseren Maßnahmen in der Presse. Für ein persönliches Gespräch stehe ich gerne zur Verfügung.
ARTIKEL
Für 25 Flüchtlinge geht die Uni los
Tagesspiegel, 18.11.2015
TU Berlin macht Asylbewerber fit für ein Studium
Berliner Morgenpost, 19.11.2015
Hilfe für Hochschulen: Flüchtlinge sollen leichter studieren können
Tagesspiegel, 13.11.2015
Hochschulen wollen sich für Flüchtlinge öffnen
Focus & FAZ, dpa, 13.11.2015
Flüchtlinge an Unis: Wanka verspricht 100 Millionen Euro
Spiegel Online, 13.11.2015
Migration: Flüchtlinge an TU Berlin begrüßt
Berliner Morgenpost, 19.10.2015
Migration: Flüchtlinge an TU Berlin begrüßt
Focus Online, 19.10.2015
Hochschulen öffnen sich für Asylbewerber - Schnupper-Studium für Flüchtlinge in Berlin
Tagesspiegel, 4.9.2015
Warum ein Stempel die Berliner Flüchtlinge vom Hörsaal fernhält
rbb online, 26.8.2015
"Wir wollen in Asylbewerberheimen für uns werben" - Interview mit TU Präsident
Berliner Zeitung, 22.8.2015
RADIO, TV UND VIDEO
Flüchtlinge an Hochschulen: Asylleistungen auch für Studenten?
Deutschlandfunk, 6.10.2015
"Studium für Flüchtlinge - BMBF unterstützt Hochschulen"
TV-Berlin. 13.11.2015
"Flüchtlingen ein Studium ermöglichen"
Deutsche Welle, 13.11.2015
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Abraham van Veen
Leiter Studierendenservice der TU Berlin
Mit Viehtransportern nach Wien
Bei einer Abendschicht im Stadion, in der Männer-Halle, erzählten mir ältere Herren ihre Flucht.
Einer kam aus Damaskus und hatte eine sehr große Familie, drei erwachsene Söhne und vier jüngere Kinder. Von den erwachsenen Söhnen lebt der eine in Deutschland, der andere in Italien und noch einer in Russland. Der Herr war alleine geflüchtet und war auf dem Weg zum Sohn in Italien. Seine schwangere Frau und seine anderen Kinder waren in Damaskus geblieben. Er zeigte mir Fotos, von seinem Sohn, der vor wenigen Tagen zur Welt gekommen war, und ein Foto von seiner Frau. Er meinte, er vermisse sie alle sehr, aber er wisse, ihnen gehe es den Umständen entsprechend gut, er hatte mit seiner Frau geskypt. Den Rest der Familie wollte er, sobald er in Italien war, nachholen.
Sein Freund aus Bagdad (Irak) floh über Istanbul, also über die Landroute und erzählt, dass sie vor ein paar Wochen einander in einem Viehtransporter kennen gelernt hätten. Der sei geradezu komfortabel gewesen im Vergleich zu dem geschlossenen Anhänger, mit dem er vorher unterwegs war. Da saßen nicht fünf Flüchtlinge, sondern zwanzig. Sechzehn Stunden lang. Jetzt wohne er schon seit einem guten halben Jahr in einer kleinen Stadt in Oberösterreich und warte auf eine Antwort auf seinen Asylantrag.
Ein Vater, mit seiner Tochter auf dem Schoß, erzählte von einem Schlepper, der sie von der Türkei nach Griechenland brachte, über das Wasser. Sie trafen sich nachts am Meer, zusammen mit zehn anderen. Der Schlepper war pünktlich, kam mit dem Boot. Es war klein und die Wellen hoch, aber sie stachen dennoch in See
Nachdem sie sich 500 m vom türkischen Ufer entfernt hatten, ließ der Schlepper das Ruder los, sprang ins Wasser und schwamm zurück. Vereinbart war das natürlich nicht gewesen. Nach Griechenland haben sie es dennoch geschafft und offensichtlich auch nach Wien.